Montag, 30. September 2019

"Hey, Ruhe! Ich mache eine Ansage!"

„Augsburg Talk“ heißt mein Blog. Mit Augsburg hat dieser Text aber eigentlich nichts zu tun. Außer, dass ich mit der Bahn von Berlin nach Augsburg fahren wollte. Ein Bericht:

„Willkommen im ICE“, schreibt mir die Bahn aufs Handy zehn Minuten nach der geplanten Abfahrt des Zuges am Berliner Hauptbahnhof. Das ist sehr nett und ich würde mich im Normalfall auch freuen über so viel Gastfreundschaft. Nur: Ich sitze nicht im Zug. Denn der fällt aus. Stattdessen stehe ich in einer kilometerlangen Schlange am Infoschalter. Schuld am Chaos ist ein Sturm. Er trägt den eindrucksvollen Namen Mortimer und wütet im Norden und Osten Deutschlands. In Augsburg scheint währenddessen die Sonne.
Blöd gelaufen also für die Bahn und vor allem die Fahrgäste. Höhere Gewalt. Aber wie geht’s jetzt weiter? Fahren die nächsten Züge auch nicht? Stranden meine Mitreisenden und ich in der Hauptstadt? Die Schlange bewegt sich nicht. Also weg von dort, vielleicht bekommen wir am Gleis Auskunft. Oben an der Rolltreppe steht tatsächlich gleich ein Bahnmitarbeiter mit einem Tablet. Sehr schön! Als wir ihn ansprechen, beginnt er mit rotem Kopf zu schreien. „Ich weiß genau so viel wie Sie: NICHTS!“ Wir ziehen uns diskret und beschwichtigend zurück, empfehlen jedoch einen Wechsel in den Innendienst ohne Kundenkontakt. Zurück nach oben. Die Bahn hat es mittlerweile geschafft, dass weitere Mitarbeiter mit leuchtenden Warnwesten Auskunft erteilen. Es dauert tatsächlich nur wenige Minuten, dann stehe ich vor einem sympathischen Hipster, der gerade noch ein paar Asiaten entschuldigend weitergeschickt hat. Der Hipster sagt, in den nächsten vier Stunden fahre auf jeden Fall nichts. Nada. Niente. Danach vielleicht. Aber man weiß es nicht.

Zwischen Freude und Frust


Frust macht sich breit. Und jetzt? Erstmal nen Kaffee in einer Burger-Bar im Bahnhof. Aber plötzlich eine Durchsage. „Achtung, ein Hinweis an alle Fahrgäste, die... Hey, Ruhe! Ich mache eine Ansage!!“ Irritierte Blicke der Reisenden. Nachdem die Kollegen der Ansagerin das Ratschen eingestellt haben, fährt sie fort und teilt mit, dass der Verkehr nach und von Norden wieder aufgenommen wird. Die Bahn-App weiß jedoch noch von nichts. Mietwagen-Pläne verwerfen wir vorerst und nehmen uns vor, nachher doch nochmal zum Gleis zu schauen. Dort angekommen erleben wir Szenen, die an die Schlacht auf dem Lechfeld erinnern. Überall liegende, stehende und sitzende Menschen mit Rucksäcken und Koffern. Es gibt kaum ein Durchkommen. Dann brandet plötzlich Jubel auf. Die Bahn hat offensichtlich einen Ersatz für unseren ausgefallenen Zug organisiert. Er trifft in Kürze ein mit lediglich 75-minütiger Verspätung, nur die Wagenreihung ist geändert, aber das gehört ja fast schon dazu. Wir fallen uns vor Freude um den Hals. Die Stimmung wird aber wenig später schnell wieder getrübt. Von einer Sekunde auf die andere verschwindet der Zug von der Anzeige. Einfach so. Schwupp. Ohne Durchsage (Wahrscheinlich wurde die freundliche Ansagerin wieder von ihren ratschenden Kollegen abgelenkt!). Okay. Aber immerhin: Es fahren Züge. Der nächste in nur wenigen Minuten am Bahnsteig gegenüber. Das Problem: Es ist ein Mini-ICE mit nur wenigen Wagen. Und alle Teilnehmer der Lechfeld-Schlacht wollen da rein. Auch wir. Und wir schaffen es unter Einsatz unseres Lebens. Aber umsonst. Per Durchsage weist die Zugchefin daraufhin, dass der Zug überfüllt sei. „Ach?“, denken sich alle, die gerade den Koffer oder Ellbogen des Nebenmannes im Gesicht haben. Deshalb müssen nun alle aussteigen, die kein Ticket für diesen konkreten Zug haben. Das ist etwas komisch, denn kurz davor hieß es, man könne jeden Zug benutzen, der einen alternativ nach München bringt. Offenbar kam die Bestürmung des Mini-ICEs durch die mittlerweile genervten Passagiere für die Bahn völlig überraschend. Direkt am Gleis ließ sich übrigens bis zuletzt kein Mitarbeiter sehen, um das Chaos vielleicht etwas zu lindern. 

"Zug wird zur Ausfahrt gebracht!"


Also wieder raus aus dem Mini-ICE. Nächste potentielle Fahrmöglichkeit Richtung Süden in ein paar Minuten. Nächster Versuch also. Auch diese Alternative der Alternative hat bereits 45 Minuten Verspätung. Auf Gleis 2. In umgekehrter Wagenreihung. Klar. Gute Tradition. Aber halt, Durchsage! Jetzt doch Gleis 3, in erneut umgekehrter Wagenreihung! Und zwar nicht in einer Dreiviertelstunde, sondern... jetzt! JETZT! Die Schlacht vom Lechfeld schiebt sich in Richtung Rolltreppe. Zum Glück hat ein anderer Zug zwischenzeitlich für etwas mehr Platz am Gleis gesorgt und hat zahlreiche Teilnehmer des gestrigen Berlin-Marathons eingesammelt (Die Sportler bereuen es vermutlich zutiefst, ihre Kräfte nicht geschont zu haben, dann hätten sie nun den Heimweg joggend antreten können.)

Jetzt ist für uns also Tempo gefragt, denn unsere ursprünglichen Sitzplatz-Reservierungen sind natürlich hinfällig. Der Zug rollt ein. Wir stürmen erfolgreich nach drinnen.
Jetzt ist der Zug also schon da, auf der Anzeige prangern aber immer noch die 45 Minuten Verspätung. Abfahren oder warten? Der Zugchef trifft eine mutige Entscheidung und teilt sie über den Lautsprecher voller Inbrunst mit: „Der Zug wird nun zur Ausfahrt gebracht.“ Zu kompliziertes Bahn-Deutsch offenbar. (Aber die Bahn sagt ja auch „Relationen“ statt Verbindungen...) Einige Fahrgäste stehen jedenfalls noch in den Türen. Es folgt eine Klartext-Durchsage: „Wir wollen los, Türen frei machen!“, tönt es in schönstem Sächsisch. Wenige Minuten später geht es tatsächlich los. Ich kauere nervös auf meinem Platz, denn der ist anderweitig reserviert. Doch das Schicksal meint es gut mit mir. Der Platz bleibt frei. Ich lehne mich zurück und höre, was Gabor Steingart heute in seinem Podcast zu sagen hat.

Hinter Erfurt zieht jemand die Notbremse. Vermutlich ist ein Kumpel nicht rechtzeitig vom Rauchen in den Zug zurückgekommen. Vor München stehen wir nochmal. Kinder im Gleis, erfahren wir. Das war dann aber tatsächlich die letzte unplanmäßige Episode dieser Reise.

Mit knapp vierstündiger Verspätung kommen wir in Augsburg an. Von den nachfolgenden Zügen sind die meisten übrigens ausgefallen. Happy End. Mortimer hat Gnade walten lassen.